Eine Kurzgeschichte von Sebastian Noll

»Schlaf schön«, sagte seine Mutter und warf ihm ein sanftes Lächeln zu, ehe sie die Tür zu seinem Zimmer anlehnte. Der Raum war nun abgedunkelt, nur wenig Licht drang noch vom Flur durch den Türspalt hinein.

Er schloss die Augen und freute sich auf einen spannenden Traum, den er gleich zu erleben glaubte. Doch im selben Moment, als sich seine Augenlider schlossen, fühlte es sich an, als hätte er die Augen gleichzeitig auch geöffnet.

Sein Blick war auf eine menschenleere Straße gerichtet. Es war Nacht und der Vollmond schien durch die Häuserschlucht auf den vom Regen befeuchtete Asphalt. Die Straßenlaternen und die Beleuchtung der Schaufenster erhellten die Straße zusätzlich.

Irgendetwas fühlte sich seltsam an. Der Weg von seinem Kopf auf den Boden schien viel weiter als sonst und seine Arme, die Beine und der ganze Oberkörper fühlten sich dicker an. Er sah an sich hinab und erkannte unter einem silber-schimmernden Stoff einen muskulösen Brustkorb, wie er ihn sonst nur von Wrestlern kannte. Auch seine Arme waren so breit wie sonst sein ganzer Körper.

Sein Blick fiel in das Schaufenster links von ihm. Durch die Scheibe reflektierte sein Spiegelbild, das ihm dermaßen befremdlich vorkam, dass er vor Schreck beinahe stolperte. Dank seiner kräftigen Beine konnte er sich glücklicherweise schnell wieder stabilisieren.

Was ihn jedoch am meisten erschrak, war die seltsame Maske, die sein Gesicht verdeckte. Doch in dem Moment, als er eine seiner riesigen Pranken hob, um sich Maske abzunehmen, hallte ein lauter Schrei durch die Straße.

»AH, HILFE!«, rief eine panische Frauenstimme. »LASSEN SIE MICH IN RUHE!«

Was sollte er nun tun? Der Stimme folgen und zur Hilfe eilen?

Ein seltsames Gefühlsgemisch aus Mut und Selbstbewusstsein ließ ihn die ersten Schritte in Richtung einer dunklen Gasse gehen, in der er die hilfsbedürftige Frau vermutete.

»GEHEN SIE WEG!«, donnerte eine völlig aufgelöste Frau, die vor zwei dunklen Gestalten zurückwich und sich dabei an ihre Handtasche klammerte.

»Na los, her mit der Handtasche«, befahl einer der Schurken und warf ihr ein dreckiges Grinsen zu.

»Ja, her damit«, bestätigte der andere. »Und danach lässt du für uns…«

»Was soll das werden, wenn es fertig ist?«, fragte eine tiefe und unglaublich füllige Stimme, bei der die ganze Gasse zu beben schien.

»Was bist du denn für ein lustiger Vogel?«, entgegnete einer der Schurken, als sich die beiden umdrehten. »Ist das dein Halloweenkostüm? Dabei ist Halloween doch erst in drei Monaten.«

»Lasst die Frau in Ruhe oder ich werde dafür sorgen, dass für euch Halloween drei Monate zu früh beginnt.«

»Sieh mal einer an, wir haben es offenbar mit einem Spaßvogel zu tun«, lachten die Männer, wobei einer von ihnen demonstrativ ein Messer durch die Luft wirbeln ließ. »Die hübsche Lady gehört uns. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Wenn du verstehst, was ich meine.«

Noch ehe der eine von ihnen mit seinem Messer reagieren konnte, stürmte der muskulöse Held auf ihn zu, schlug ihm mit seiner linken Faust das Messer aus der Hand, und versetzte ihm mit der Rechten einen Kinnhaken, der ihn sofort zu Boden sinken ließ. Den zweiten griff er am Hals und hob den zappelnden Schurken in die Luft.

»Lass mich runter«, keuchte dieser und schlug wie wild um sich. Doch die Mühe war vergeblich, die kräftigen Arme des Helden waren davon gänzlich unbeeindruckt. Erst als der Mann sich langsam beruhigte, ließ er auch ihn zu Boden gleiten.

»Sie sind nun wieder sicher«, sagte er und deutete auf die beiden am Boden liegenden Räuber.

Eingeschüchtert und völlig verängstigt starrte die hübsche Frau ihren Retter an.

»Ist alles in Ordnung mit ihnen?«, fragte er sie besorgt.

»Ja, es ist alles in Ordnung«, nickte sie hastig. »Es geht schon wieder. Vielen Dank.«

Dann eilte sie die Gasse entlang zur Straße, verschwand hinter der nächsten Ecke und ließ ihren Retter alleine zurück. Keine Sekunde später hörte er das Aufheulen einer Polizeisirene. Sogleich stürmte er in die entgegengesetzte Richtung tiefer in die Gasse hinein. An der nächsten Ecke bog er links in eine Sackgasse, sprang mit einem Satz eine Feuertreppe hinauf und kletterte in rasender Geschwindigkeit bis auf das Dach. Von dort oben sah er noch, wie die Polizei die beiden Räuber in Handschellen abführte.

Was für ein Wahnsinnsgefühl! Er hatte zwei Schurken mit bloßer Muskelkraft überrumpelt und eine Frau gerettet – wie ein Superheld. Und diese unfassbare Kraft und Ausdauer, die sein ganzer Körper ausstrahlte, war geradezu berauschend. Wenn das hier ein Traum war, dann hoffte er, nicht so schnell daraus zu erwachen.

Ob er auch fliegen konnte? Ein Versuch war es wert.

Er schloss die Augen, um tief Luft zu holen, doch ein weiteres Mal veränderte sich seine Sicht. Er fand sich in seinem dunklen Zimmer wieder. Das Licht aus dem Flur war mittlerweile erloschen und er konnte kaum noch etwas erkennen.

Er ballte die Hand zu einer Faust. Die Kraft, die er vorhin noch spürte, war fort. Sein Körper fühlte sich wieder ganz normal an. Schade, doch nur ein Traum. Obwohl es sich so real angefühlt hatte.

Von draußen hörte er noch das leise Heulen einer Polizeisirene. Wieder schloss er die Augen, in der Hoffnung sich im Körper des Superhelden wiederzufinden, doch alles, was er dort sah, war die Rückseite seiner dunkeln Augenlider.

Erst Stunden später schlief er erschöpft ein. Der folgende Traum fühlte sich wieder wie ein gewöhnlicher Traum an, bei dem die Erinnerung kurz nach dem Aufwachen schnell verblasste. Die Heldentat aus dieser Nacht wollte ihm jedoch nicht aus dem Kopf gehen. Erst recht nicht, als er am Morgen die Gesichter von zwei überführten Räubern in den Nachrichten sah, die ihm schrecklich bekannt vorkamen…

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