Eine Kurzgeschichte von Sebastian Noll

Hinweis: Der folgende Text enthält unter anderem Gewalthandlungen.

Raiga kniete auf dem harten Holzboden. Sein Kopf war in tiefer Ehrfurcht vor seinem Meister geneigt. Die Rüstungen, die er und sein Meister trugen, waren prunkvoll verziert mit aufgestickten Zeichen und farbigen Stoffen. Das in einem komplizierten Verfahren gehärtete Leder hielt sogar oberflächliche Schnitte eines scharfen Katana stand.

»Erhebt euch«, forderte Raigas Meister mit vielsagender Handgeste.

Raiga hob den Kopf und sah zu ihm auf. Der furchterregende Helm verdeckte seine Gesichtszüge. Dennoch stand er auf und blickte seinem Meister tief in die Augen. Auf diesen Moment hatte er jahrelang hingearbeitet.

»Ihr werdet nun in den Stand eines Samurai erhoben«, sagte sein Meister feierlich. »Ab heute wird man euch unter eurem neuen Namen Kiri no Raiga kennen – dem Samurai des Nebels. Nehmt jetzt eure Klinge!«

»Jawohl, Sensei.«

»Ich bin nun nicht mehr euer Sensei. Ihr seid jetzt eurer eigener Meister. Ich habe euch mein ganzes Wissen vermacht, aber Weisheit müsst ihr selbst finden. Und jetzt nehmt die Klinge.«

Raiga zog das Katana aus der Schwertscheide und hielt die spitze Seite der Klinge in die Handfläche seiner linken Hand.

»Mit Blut soll es beginnen, mit Blut wird es enden«, erklärte sein Meister und nickte ihm zu. Raiga wusste, was zu tun war. Oft hatte er über das Ritual gelesen und viel darüber gehört. Einmal soll dabei sogar jemand verblutet sein. Aber das würde ihm ganz sicher nicht passieren. Viel zu gut hatte er sich darauf vorbereitet.

Dann packte er mit seiner linken Hand zu und zog das Katana mit einem schnellen Ruck aus dem Griff heraus. Einen Wimpernschlag später schwappte ein ziehender Schmerz durch seinen ganzen Körper. Dicke Tropfen Blut benetzten den Fußboden vor seinen Füßen. Die scharfe Seite seines Katanas hatte sich derweil blutrot verfärbt.

Den Schmerz unterdrückend, die linke Hand zur Faust geballt, ließ er das Schwert wieder in der Scheide verschwinden. Während des gesamten Prozederes hatte er seinen Blick keine Sekunde von seinem ehemaligen Meister abgewandt. In diesem Moment nahm der Meister seinen Helm ab und sank vor Raiga auf die Knie.

»Bitte steht wieder auf«, sagte Raiga zitternd. »Ihr mögt nicht mehr mein Meister sein, aber diesen Respekt habe ich nicht verdient.«

»Raiga-kun«, begann dieser mit gesenktem Kopf. »Du warst der beste Schüler, den ich je hatte. Ich bin unfassbar stolz, wie du die Ausbildung gemeistert hast. Endlich habe ich einen würdigen Nachfolger gefunden, der meine Lehren weitergeben kann.«

Er erhob sich wieder. In seinen Augen konnte Raiga Tränen erkennen.

Diese Seite kannte er an seinem Meister bisher nicht. All die Jahre hatte er ihn leiden lassen und nur Verachtung für ihn übrig gehabt. Er musste Drecksarbeiten für ihn erledigen, wurde häufig geschlagen und musste unfassbar harte Trainingsübungen durchführen, bei dem sein Körper und seine Psyche über jegliche Grenzen hinaus gefordert waren.

»Es tut mir leid«, fuhr er unter Tränen fort. »Ich weiß, was ich dir angetan habe. Mein Kniefall kann nicht einmal im Entferntesten den Respekt darstellen, den du verdienst. Die Ausbildung war schlimmer als jede Folter. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich mit dir gelitten habe. Dennoch hast du nicht aufgegeben und die Ausbildung bis zum Ende durchgehalten. Das ist nicht selbstverständlich, sondern gerade zu außergewöhnlich, denn du bist der Erste, dem das unter meiner Leitung gelungen ist. Nichtsdestotrotz war die besondere Härte ein wichtiger Aspekt deiner Ausbildung. Nur wem unsägliches Leid widerfahren ist, kann wahre Größe entwickeln. Ich habe dir alles für diesen Weg mitgegeben. Gehen musst du ihn jedoch selbst.«

Raiga nickte und nahm nun ebenfalls den unbequemen Helm ab.

»Ich werde sie nicht enttäuschen!«, entgegnete er selbstbewusst.

»Nun gehe hinaus in die Welt. Blicke nicht zurück und konzentriere dich nur auf den Weg nach vorne.«

Er trat zur Seite, sodass Raigas Weg nach draußen frei war. Endlich konnte er diesen Ort nach Jahren der Qual verlassen, die Zukunft planen.

Nachdem er die ersten Schritte Richtung Ausgang gelaufen war, hielt ihn sein Meister noch ein aller letztes Mal auf: »Eine Sache noch: Werde zu einem besseren Lehrer als ich es war, hörst du.«

»Lebt wohl«, antwortete Raiga, trat in die Freiheit und holte tief Luft, seinen Helm noch immer unter dem Arm festgeklemmt. Der wundervoll angelegte Garten war eigentlich ein ruhiger, geradezu bezaubernder Ort. Aber die Erinnerungen an das harte Training ließ bei ihm ein ungutes Gefühl aufkommen. Er wollte einfach nur schnell weg von hier und alles hinter sich lassen. Noch bevor er das Anwesen endgültig verließ, verband er sich den Schnitt an seiner linken Hand notdürftig mit einem Stück Stoff. Dann eilte er schnellen Schrittes zum Ausgang des Anwesens auf die Straße Richtung Nishiwaki, der nächstgrößeren Stadt. Dort wollte er sich nach Arbeit umsehen und dann mit etwas Geld in den Taschen weiter nach Hyōgo reisen.

Während Raiga unterwegs noch Pläne für die nächste Zeit schmiedete, führte ihn die Straße durch ein Waldstück. Durch das windige Wetter rauschte es durch das dichte Blätterwerk der Bäume. Und aus irgendeinem Grund musste er sich an eine ähnliche Situation während seiner Ausbildung zurückerinnern. Sein Meister hatte ihm die Augen verbunden und von allen Seiten mit Taiko-Trommeln beschallt, sodass er kaum noch etwas hören konnte. Dann griff er ihn völlig willkürlich mit seinem Katana an, wobei er den Schlägen ausweichen sollte. Ein nahezu unmögliches Unterfangen, das ihm etliche Narben bescherte. Doch nach einiger Zeit schaffte er es tatsächlich, den Schlägen intuitiv auszuweichen. Seine Sinne hatten sich seitdem enorm geschärft. Er spürte die drohende Gefahr förmlich. Genau wie jetzt in diesem Wald.

Er blieb stehen, schloss die Augen und lauschte. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Im nächsten Moment wich er mit dem Oberkörper mit einer geschickten Bewegung zur Seite aus und öffnete sogleich die Augen. Ein Mann in dunkler Kleidung hatte ihn aus einem Gebüsch aufgelauert und ihn mit einem spitzen Messer attackiert. Blitzschnell griff er nach seinem Katana und hielt es kampfbereit vor sich.

»Ganz schön flink«, sagte der Mann mit überraschtem Gesichtsausdruck. »Ein Samurai nehme ich an.«

»Ich bin Kiri no Raiga, Samurai des Nebels«, stellte er sich selbstbewusst vor. »Ehemaliger Schüler des Mizu no Munashi, dem berühmten Samurai des Wassers.«

»Des Mizu no Munashi, ja?«, fragte der Mann und ein hämisches Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit. »Das trifft sich ja außerordentlich gut.«

»Und wer seid ihr, dass ihr es wagt einen Samurai anzugreifen?«, wollte Raiga wissen.

»Ich bin gerade zufällig auf dem Weg zu deinem Meister«, antwortete der Mann und ließ das Messer durch die Luft wirbeln.

»Und was wollt ihr von ihm?«

»Das dürfte keine Rolle mehr für dich spielen. Wenn ich dort ankomme, habe ich deine Leiche schon längst hier im Wald verscharrt.«

Wie der Wind schoss er mit einem schnellen Satz auf Raiga zu und ziele mit dem Messer direkt seine linke Brust. Raiga jedoch schwang sein Katana genau im richtigen Moment, sodass er dem Fremden mit einem sauberen Schnitt den ganzen Unterarm abtrennte.

Ein lauter Schmerzschrei hallte durch die Bäume des dichten Waldes, während der Angreifer entsetzt auf die abgetrennte Gliedmaße starrte. Sein Blut floss in Strömen auf die Hose.

»Du verdammter Hundesohn!«, brüllte er Raiga entgegen.

»Kehrt wieder um«, entgegnete Raiga ernst. »Ich werde nicht zulassen, dass ihr meinem ehemaligen Meister auch nur ein Haar krümmt. Schon gar kein feiger, ehrloser Shinobi wie ihr.«

»Los, erledigt ihn!«, donnerte der Verletzte und urplötzlich stürmte eine Handvoll weiterer Männer auf Raiga zu, die sich allesamt hinter Bäumen oder Büschen versteckt hatten. Doch Raiga war auch für eine solche Situation perfekt vorbereitet. In seiner Ausbildung hatte er gelernt, selbst in Unterzahl das Momentum für sich zu nutzen. Und so dauerte die Attacke keine Minute, ehe die fünf Angreifer blutüberströmt am Straßenrand lagen, während Raiga sein Katana wieder in der Scheide verschwinden ließ.

»Und jetzt sprecht, Shinobi: Wer hat euch beauftragt?«, fragte er ruhig zum letzten Überlebenden, der noch immer mit der Verblutung zu kämpfen hatte.

»D-d-der Feudalherr von Hyōgo«, antwortete dieser zitternd. »Bitte lasst mich gehen, großer Samurai des Nebels. Ich flehe euch an.«

»Ihr widert mich an«, sagte Raiga und wandte den Blick ab. »Ein Krieger sollte niemals um sein Leben flehen und es stattdessen selbst beenden. Ihr habt keine Ehre, keinen Stolz. Aber ich werde euch dennoch laufen lassen. Kehrt zu eurem Feudalherren zurück und berichtet ihm, was passiert ist – falls ihr so lange überlebt. Und sagt ihm, wenn er noch einmal einen Mordanschlag auf mich oder meinen ehemaligen Meister plant, komme ich und werde ihn zur Rechenschaft ziehen!«

»Sehr wohl, großer Krieger, Samurai des Nebels«, sagte der Mann, stand panisch auf und humpelte in den Wald hinein.

Raiga hingegen blieb noch einen Moment auf der Straße stehen, ehe er sich wieder auf den Weg machte. Er hatte nun ein neues Ziel: Dem Feudalherren von Hyōgo einen Besuch abstatten.

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