Eine Kurzgeschichte von Sebastian Noll

Die folgende Geschichte ist nicht erfunden, sondern hat sich tatsächlich so zugetragen. Sie stammt aus der Erzählung eines Schülers einer westfälischen Schule aus dem Jahre 2003.

Es war Dienstagmorgen und ich machte mich, wie jeden Tag, auf den Weg in die Schule. Ich packte meine Tasche für den Schulunterricht und bekam von meiner Mutter noch eine gefüllte Brotdose für die Pause mit. Draußen war es noch dunkel. Um halb Acht musste ich in der Schule sein und im Winter zeigte sich die Sonne meist erst kurz vor neun.

Noch etwas schlaftrunken, aber dick eingepackt, schlenderte ich die Straße in Richtung Schule entlang. Zwanzig Minuten Fußweg warteten nun auf mich, während ich gedankenversunken auf den Bürgersteig vor mir starrte. Wenn ich doch nur schon gewusst hätte, dass das frühe Aufstehen überhaupt nicht nötig gewesen wäre, gäbe es diese Geschichte gar nicht. Doch so lief ich direkt in den schlimmsten “Schultag” meines Lebens.

Pünktlich wie ich war, erreichte ich das Schulgebäude um kurz vor halb acht. Bereits von weitem fiel mir auf, dass in keinem einzigen Klassenzimmer Licht brannte. Das kam zwar gelegentlich vor, war aber eher selten. Doch was mich dann wirklich stutzig machte, waren die anderen Schüler. Die waren nämlich nirgendwo zu sehen. Ebenso wenig wie Lehrer oder sonst irgendwelche Personen, die vorhatten, das Schulgebäude zu betreten. An dieser Stelle hätte mir eigentlich schon klar sein müssen, was los war. Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund ging ich dennoch zum nächsten Eingang und betrat das Gebäude. Ich stand zunächst in der leeren Pausenhalle und sah mich um. Lichter brannten keine und endlich erinnerte ich mich: Heute war schulfrei. Die Schule hatte an diesem kühl-nassen Wintertag allen Schülern freigegeben. >Beweglicher Ferientag< nannte sich das.

Sofort kehrte ich um und drückte an der Tür, durch die ich eben noch hereingetreten war. Doch die Tür bewegte sich nicht. Ich drückte erst etwas fester, dann rüttelte ich daran, aber sie ließ sich beim besten Willen nicht mehr öffnen. Ich war plötzlich in einer völlig leeren und dunklen Schule eingesperrt.

Panik stieg in mir auf. Wie bin ich hier überhaupt hereingekommen? Und warum ließ sich die Tür nicht mehr öffnen? Das konnte doch überhaupt nicht sein!

Ich ließ meinen Blick durch die dunkle Halle streifen. Dann rannte ich los zur nächsten Tür, die auf den Pausenhof führte. Doch auch diese war fest verschlossen, ebenso wie die nächsten zwei Türen, die ich ausprobierte. Selbst über den Notausgang konnte ich nicht wieder nach draußen gelangen. Es schien, als gäbe es aus dem Gebäude kein entkommen.

Nervös starrte ich durch eines der Fenster nach draußen in Richtung Straße. Ob ich mit Klopfen und Rufen auf mich aufmerksam machen sollte? Nein, keine Chance, die Straße war viel zu weit weg.

Plötzlich hörte ich ein seltsames Knacken, das mich zusammenzucken ließ. War ich vielleicht doch nicht alleine hier? Fast zwei Minuten stand ich nahezu regungslos da und lauschte nach einem weiteren Knacken. Erst als ich glaubte, mich getäuscht zu haben, knackte es erneut, deutlich kräftiger und lauter als zuvor. Zwar war ich mir nicht sicher, dennoch glaubte ich, das Geräusch aus einem der geschlossenen Klassenzimmer gehört zu haben.

Vorsichtig näherte ich mich der Tür, aus der das vermeintliche Knacken zu vernehmen war. Ganz langsam presste ich mein Ohr dagegen und lauschte. Zu hören war allerdings nur Totenstille. Dort war weder ein Knacken noch sonst irgendein Geräusch. Hätte mich auch gewundert, wenn dort jemand gewesen wäre. Normalerweise wurden sämtliche Klassenräume nach Schulschluss abgeschlossen.

Langsam fing ich an an mir selbst zu zweifeln. Ich würde doch wohl nicht verrückt werden? Das Knacken hatte ich mir sicher nur eingebildet, hoffte ich und atmete einmal tief durch. Es musste doch irgendeinen Weg geben, diesem Gefängnis zu entkommen. Erneut starrte ich durch ein Fenster nach draußen auf die entfernte Straße, wo die Laternen für ein wenig Licht sorgten.

Das Fenster! Ich könnte einfach ein Fenster öffnen und dann in Freiheit klettern. Hier im Erdgeschoss war das auch kein großes Problem. Doch im selben Moment, als ich gerade auf das Fenster zugehen und nach einem Mechanismus zum Öffnen suchen wollte, bollerte es an der Klassentür. Ein lautes und zugleich heftiges Bollern hallte durch den Gang, als wenn jemand mit viel Kraft die Tür aufzubrechen versuchte.

Ich erschrak dermaßen, dass ich rücklings zu Boden fiel und ich mich vor Angst kaum noch bewegen konnte. So schnell wie das Bollern gekommen war, so schnell war es auch schon wieder verschwunden. Die Stille kehrte wieder zurück, als wenn nichts geschehen wäre.

Was um alles in der Welt war das? Noch immer pochte mein Herz in der linken Brust vor Schreck. Ich atmete schwer und stand kurz davor zu hyperventilieren.

Es dauerte etwas, bis ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte. Und je länger ich dort am Boden hockte, desto mehr glaubte ich, mir das Bollern nur eingebildet zu haben. Dennoch starrte ich auf die geschlossene Klassenzimmertür, als wenn ich erwartete, dass sie sich jeden Moment öffnete.

Ich raffte mich vorsichtig wieder auf, wischte mir mit dem Ärmel den Angstschweiß von der Stirn und wandte mich wieder dem Fenster zu, aus dem ich hoffte, entkommen zu können. Hastig untersuchte ich den Fensterrahmen nach einem Griff oder einem anderen Mechanismus, mit der sich das Fenster öffnen lassen könnte. Doch dort war nichts dergleichen, kein Griff, kein Hebel oder sonst etwas. Es war schlicht nicht vorgesehen, dieses Fenster zu öffnen. Gleichwohl hätte ich es einschlagen können. Allerdings war ich mir unsicher, ob ich kräftig genug war. Und was würde wohl passieren, wenn man mich dabei erwischt hätte? Es hätte mir doch niemand geglaubt, dass ich zwar problemlos durch die Tür hereingekommen, aber nicht wieder herausgekommen wäre.

Da war es wieder! Ein seltsames Geräusch kam aus dem Klassenraum, diesmal ein leises Knistern und Kratzen. Nach einigen Sekunden gab ich mir selbst einen Ruck, trat zur Tür und legte meine Hand auf den Griff. Vorsichtig drückte ich den Türgriff nach unten und zog daran. Eigentlich hatte ich erwartet, dass  die Tür verschlossen war. Zu meinem Erstaunen ließ sie sich jedoch mit Leichtigkeit öffnen. Erst einen Spalt, durch den ich einen ersten Blick in das dunkle Klassenzimmer werfen konnte, und dann stieß ich sie mit einem Ruck auf. Wer auch immer sich darin versteckte, sollte jetzt wissen, dass mit mir nicht zu spaßen ist.

Das Klassenzimmer war ruhig. Für fast eine Minute lauschte ich angespannt in die Stille, doch nichts war zu hören, weder ein Knacken noch ein Kratzen. Mein Blick durch die Tür reichte von den gegenüberliegenden Fenstern, über einige leere Tische, auf denen die Stühle abgestellt waren, bis zur geputzten Tafel. Dann widmete ich meine Aufmerksamkeit dem Fenstergriff. Darüber könnte ich ohne Probleme in die Freiheit entkommen!

Sofort rannte ich auf das Fenster zu und blieb auf halber Strecke mitten im Klassenzimmer stehen. In der linken Ecke des Raums, die ich durch die Tür nicht erkennen konnte, stand eine dunkle, kaum ein Meter große Gestalt. Sie hatte sehr langes, pechschwarzes Haar, das trotz seiner dunklen Farbe leicht im schwachen Licht schimmerte. Der Großteil des Gesichts war durch die seltsamen Haare verdeckt und daher kaum zu erkennen. Sie trug ein langes, schmutziges Gewand, das fast bis zum Boden reichte. Ihre Füße schauten gerade noch unter dem langen Gewand hervor und zeigten widerlich verschrumpelte Zehen mit krummen Nägeln. Auch die Fingernägel sahen wenig gepflegt aus und sind augenscheinlich schon lange nicht mehr abgeschnitten worden. Der Blick der Gestalt war zu Boden gerichtet.

Ich war mir nicht sicher, mit was für einem Wesen ich es dort zu tun hatte, aber das war mir in diesem Augenblick auch egal. Ob nun Geist oder kleines Mädchen, die Gestalt hatte mich dermaßen erschrocken, dass ich nur noch eins wollte: so weit wie möglich von ihr weg. Nur war ich vor Angst geradezu paralysiert und konnte mich kaum bewegen.

Plötzlich gab das unheimliche Wesen einen unfassbar fürchterlichen Kreischlaut von sich, der mir sämtliche Haare zu Berge stehen ließ. Das Kreischen drang tief in meine Ohren und schien mich zu betäuben.

»Wegbleiben!«, donnerte das Wesen kaum verständlich, »wegbleiben!«

Wenn ich nicht gelähmt gewesen wäre, hätte ich vermutlich die Beine in die Hand genommen und wäre davongerannt. Stattdessen kroch ich dort am Boden, ließ mich in die Ecke drängen, die am weitesten von dem unheimlichen Wesen entfernt lag. Dann kam es plötzlich direkt auf mich zu. Es wand sich an den Tischen und Stühlen vorbei genau in meine Richtung.

»Lügen!«, heulte das Wesen auf. Und in dem Moment kam das Gefühl in meine Beine zurück. Ich rappelte mich auf und rannte los. Erst ging es durch die Tür, dann den leeren Gang entlang zum Ausgang. Geistesgegenwärtig drückte ich mit ganzer Kraft gegen die Tür, schob sie mit Leichtigkeit auf und jagte davon. Erst als ich völlig außer Atem etwa 100 Meter vom Schulgebäude entfernt zum Stehen kam, begriff ich, dass ich es irgendwie geschafft hatte, der Schule zu entkommen. Ich stand keuchend dort, starrte auf das Gebäude und durch das Fenster in das Klassenzimmer, in dem ich noch vor wenigen Momenten in die Ecke gedrängt wurde. Was um alles in der Welt war das für ein seltsames Etwas?

Einige Minuten lang lehnte ich mich gegen einen Baum und versuchte zu verstehen, was passiert war. Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, ging ich erneut zum Eingang der Schule. Natürlich wollte ich das Gebäude nicht erneut betreten, aber ich musste wissen, ob sich die Tür weiterhin öffnen ließ. Ganz behutsam näherte ich mich dem Eingang, achtete genau darauf, diesem seltsamen Wesen nicht wieder in die Arme zu laufen. Dort angekommen, warf ich zunächst einen Blick durch die Glasscheiben in den dunklen Gang, bevor ich an der Tür zu ziehen begann. Nichts rührte sich. Ich zog etwas fester, dann rüttelte ich daran, doch die Tür ließ sich nicht mehr öffnen. Dieselbe Tür, durch die ich das Gebäude erst betreten und dann vor wenigen Minuten wieder verlassen hatte, blieb nun schon das zweite Mal geschlossen.

Auf dem Weg durch die Kälte nach Hause zweifelte ich an mir. Ob das alles wirklich passiert war? Vielleicht hatte ich die Schule auch gar nicht betreten und mir das unheimliche Wesen nur eingebildet? Ich wusste nicht mehr, was ich noch glauben sollte.

Als ich zu Hause ankam, klärte ich meine Mutter über den schulfreien Tag auf, verschwieg ihr aber das Erlebnis mit der eigenwilligen Tür und dem obskuren Wesen. Eines hatte ich mir jedoch fest vorgenommen: Nie wieder würde ich eine leere Schule betreten. Das Wesen habe ich seitdem nicht mehr getroffen.

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